Wunder können wahr werden
Wunder können wahr werden
Montag, 20. Juni 2016
Man schreibt das Jahr 1500. Immer mehr Pilger drängen zum wundertätigen Bildstock oberhalb Münders an der Straße nach Springe. Opfergaben werden niedergelegt. Jahre später notiert der Stadtschreiber: „Der Priester aber (…) hat die Opfer, so täglich angefallen, fleißig aufgehoben und an demselben Orte eine schöne Kirche angefangen zu bauen. Zu Ehren der hl. Anna, wozu ihm die Leute aus Münder und die Benachbarten gerne mit Andacht geholfen haben.“ 1506 ist die vorreformatorische Wallfahrtskirche fertig. Am 26. Juli findet die erste Wallfahrt statt. Heute liegt nur noch der Grundriss der „St. Annen-Kapelle“ als Bodendenkmal wenige Zentimeter unter der Oberfläche eines Ackers.
Bild: Tischlein-deck-dich. einst Wunder, heute Alltag für viele.
Ob in der St. Annen-Legende von Münder oder der biblischen Marien-Erscheinung von Lourdes, gesteigerte Religiosität, Volks- und Wunderglaube haben sich zu allen Zeiten als starke Kraft erwiesen, haben vor allem Eingang in märchenartige Erzählungen und Sagen gefunden. Übernatürliches erfährt in diesen Texten eine Verstärkung, sodass die auftretenden wundersamen Phänomene von den Figuren als völlig selbstverständlich hingenommen und nicht hinterfragt werden. Naturgesetze werden überwunden oder gänzlich aufgelöst.
Das mittelhochdeutsche Wort „maere“ etwa heißt soviel wie „Wundernachricht“. Eine sagenhafte Erscheinung, die als übernatürlich aufgefasst wird, das menschliche Begriffsvermögen überschreitet.
Auf derlei übernatürlichen Zauber treffen wir weltweit in vielen Textüberlieferungen. Nicht nur in den Märchen, die die Brüder Grimm zusammengetragen haben. Die Zahl der Gegenstände, die Wunderbares ermöglichen, ist Legion: das „Tischlein-deck-dich“ und der „Knüppel-aus-dem-Sack“, nie versiegende Geldbeutel und Kochtöpfe, heilenden Wasser, die Blinde sehen machen, und Stiefel, die ihren Träger wie Supermann im Eiltempo von Ort zu Ort bringen.
Alles das wird eingesetzt im Kampf für das Gute, für barmherzige Hilfe, gegen die ebenfalls mit einer Vielzahl von wunderbaren Werkzeugen ausgestatteten Vertreter des Bösen. Das reicht von den Grimmschen Märchenfiguren über den Drachentöter Siegfried bis hin zu Star Wars-Schurken und Harry Potter Zaubereien.
Wunder in antiken Heldensagen, in biblischen Texten, alles bloß Variationen des Unwahrscheinlichen und ein- und dasselbe?
Der Märchen- und Sagenforscher, Komponist und Lyriker Heinz Albert Heindrichs vertritt eine weiter gefasste Definition. Zwar bleibe die Fähigkeit der jeweiligen Heldenfiguren zu zaubern im Kern bestehen, doch ereigne sich etwa in „Wundermärchen“ zudem Übernatürliches, das den Figuren Unglaubliches widerfahren lasse. „Wundermärchen“, eine Tautologie also, da bei einem Märchen schon immer die Existenz eines Wunders vorausgesetzt werde.
Die Handlungsstränge von Sagen, Mythen und wundersamen Erzählungen jedenfalls sind allesamt ähnlich. Von Odysseus bis Superman. Nach dem russischen Literaturwissenschaftler Wladimir Jakowlewitsch Popp folgen allesamt einem „elastischen Handlungsschema“. Am Anfang steht dabei immer ein Mangel, ein Schaden, der vorerst unerfüllbare Wunsch, etwas zu können oder zu besitzen. Vielleicht fliegen, endlich heimkehren oder die schöne Königstochter heiraten zu können. Doch wie schon in der antiken Mythologie müssen zuerst Kämpfe, Prüfungen und allerlei Widrigkeiten bewältigt werden, müssen Verbote übertreten und Listen ersonnen werden, ehe die siegreiche Rückkehr, der ersehnte Reichtum und Macht, die Heirat der Königstochter samt Thronbesteigung winkt
Immer mit dabei die wundersamen Mächte des Guten und Bösen mit ihrem gottgleichen Wunderzauber.
Die Faszination der mündlich oder schriftlich tradierten Texte liegt dabei darin, dass Irreales und Wirklichkeit so miteinander so verbunden werden, dass sich niemand über Handlungssprünge und Ungereimtheiten wundert. Was jeder bestätigen kann, der seinen Kindern schon einmal Sagen oder Märchen vorgelesen hat.
Wenngleich es wahre Wunder nur in der Fantasie gibt, so ist auch in der Realität das Verlangen nach Wundern schier unstillbar. Seit Urzeiten bis heute ist die zauber- und sagenhafte Welt der Wunder, die wir in Märchen, Sagen, Mythen und Legenden antreffen bis hin zu modernen Fantasy-Universen ein elementares Grundbedürfnis.
Schnell und gerne identifizieren wir uns mit den die Drachen tötenden, für Gerechtigkeit streitenden Helden, fiebern, zittern und bangen mit, wenn haarsträubende Kämpfe zu bestehen sind, wohl wissend, dass am Ende die Gerechtigkeit siegen wird.
Erleben wir dabei erzählte und gelesene Wunder mit unseren Träumen und Sehnsüchten als mit eigenen Bildern und Fantasien befeuertes Kopfkino, so zwingen uns neuere Medien wie DVD, Fernsehen oder Internet Vorstellungen und Gefühle unmittelbar auf, überrollen unsere eigenen Bilder und individuellen Erfahrungen.
Dennoch: Menschen brauchen den Glauben an Wunder. Die Gelsenkirchener Märchenexperten Ursula und Heinz-Albert Heindrichs sind überzeugt: „Wenn die Menschen wüssten, dass viele Märchen und Sagen auf der ganzen Welt die gleichen Wurzeln haben, dann gäbe es mehr Frieden.“
Von den Wundertaten biblischen Zuschnitts bis moderner Fiktion, sind Wunder nicht eine geistige Medizin, die in der Tat heilen kann? Sie stellen schließlich wichtige Charaktereigenschaften dar, die zeigen, wie ein gelingendes Leben möglich ist. Wunder, in welcher literarischen Form auch immer, lassen Eigenschaften wie Mut, Mitleid, Bescheidenheit, Achtung, Selbstinitiative und Entschlossenheit, aber auch das biblische Gebot von Glaube, Liebe und Hoffnung hervortreten. Geben sie uns nicht auch Orientierung in der Auseinandersetzung zwischen Held und Schurke, Gut und Böse, Angst und deren Überwindung, Habgier und Genügsamkeit.
Ja, Wunder können wirklich heilen. Das spürten wohl auch die St. Annen-Pilger von Münder jenseits allen Aberglaubens. Zauber- und Wunderhaftes weist den Weg zum eigenen Selbst, einen Pfad, der die Chance eröffnet, Traumata und seelische Verletzungen zu kurieren, und sie öffnen Wege zu schöpferischer Kraft und einem bislang vielleicht zu selten oder gar nicht gelebtem Leben.
Wunder, Märchen, Mythen und Sagen und ihr Zauber gehören einfach zum Leben dazu. Was wären wir ohne sie?