Lesung: Mark Twains geheime Autobiografie
Lesung: Mark Twains geheime Autobiografie
Sonntag, 14. Oktober 2012
„Mark Twain? Klar, kennen wir, das ist doch der von Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Haben wir doch schon als Kind gelesen“, schwärmte das Damentrio in der zweiten Reihe. Doch dass gerade der „Huck Finn“ als einer der großen amerikanischen Schlüsselromane weit mehr als bloß ein mit amüsantem Lokalkolorit durchsetzter Jugendroman ist, dürfte nur wenigen der gut 70 Besucher des „Live-Hörspiels“ in der Hamelner Marktkirche bekannt gewesen sein.
Bild: Inszenierten ein „live-Hörspiel“ – Kristian Kowatsch und Alexander Gamnitzer
Mark Twain, eigentlich Samuel Langhorne Clemens (1835 – 1910), hatte seine Autobiografie nach Fertigstellung mit einer Sperrfrist von sage und schreibe einhundert Jahren belegt. Nach Ablauf der Frist hat der Berliner Aufbau Verlag jetzt das umfangreiche Werk in einer deutschen Erstausgabe herausgebracht. Dass der Schauspieler Alexander Gamnitzer („Soko Leipzig“, „Cobra 11“) aus dem großen roten Wälzer unter dem leicht irreführenden Titel „Das Live-Hörspiel“ gerade in einer Kirche, drapiert zwischen Altar, Buchplakaten und verschanzt hinter drei Doppelbänden im Schuber, Teile des Werke vorstellte, bleibt ein Geheimnis des Verlages. Doch passt es irgendwie zum an Widersprüchen und Brüchen nicht gerade armen Leben und Schreiben jenes Mannes, der sich ab Februar 1863 „Mark Twain“ nannte. Ein Begriff aus der Seemannssprache, zwei Faden Wassertiefe, rund 3.75 Meter, ausreichend, um nicht auf Grund zu laufen.
Skurrile Rahmenbedingungen hin oder her, Gamnitzers Rezitation ließ die Zuhörer eintauchen in die ebenso präzisen wie bildreichen Erinnerungen des Mark Twain, ließ sie sich wegträumen in dessen Kindheitstage „down south“, ließ Bilder und Stimmungen aufsteigen, von schwülen Waschbär-Jagden bis hin zu klirrend klaren Wintertagen. Erinnerungen an Ahornsirup, Nüsse und Winteräpfel, ans Farmleben, an Farben, Formen, Gerüchte, Gedanken, kleinste Kleinigkeiten aus denen Gamnitzers trotz langem Nachhall im Kirchenschiff eindrucksvolle Stimme einen ganzen Südstaaten-Kosmos herauszauberte.
Überaus passend dazu die Klavier-Improvisationen des jungen Berliner Pianisten Kristian Kowatsch, der exzellent die jeweilige Gefühlslage traf, musikalisch zumeist in Bluesform auf die jeweiligen Inhalte einging, sie illustrierte und vertiefte.
Dass Twain nicht nur der humorige Erzähler, sondern auch jemand mit einer Haltung war, ließ Gamnitzer am Beispiel der Szene eines Massakers aus den Indianerkriegen deutlich werden, deren Bitterkeit, ja Sarkasmus nichts zu wünschen übrig ließ.
Insgesamt aber wurden die bestehende Sichtweise auf Autor und Werk einmal mehr bestätigt. Es wäre wohl spannend gewesen, wie Twain selbst die Betitelung einer Lesung aus seiner „geheimen Autobiografie“ als „Live-Hörspiel“ vorm Altar kommentiert hätte. Wohl derart, dass sein Werk derlei Marketing-Kimbim nicht nötig habe.