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Das Geheimnis des Capoeira

Das Geheimnis des Capoeira

Freitag, 24. Mai 2013

Kurz nach Mittag ist die nüchterne Turmhalle des Schiller-Gymnasiums ein eher trister Ort. Wären da nicht die merkwürdigen Klänge eines Saiteninstruments, die aus einem Abspielgerät neben dem Mattenstapel tönen. Mitten in der Halle machen Stine, Laura, Marie und Luisa zur Musik einige Aufwärmübungen: Dehnen, Strecken, Beugen. Angeleitet werden sie dabei von Joschka Wiebusch im weißen Judoanzug und dem ganz in Grün gekleideten brasilianischen Capoeira-Lehrer Thiago Ferreira.

Anfangs geht es recht gemächlich zu. Joschka übersetzt die Anweisungen von Thiago und fast im Zeitlupentempo führt die kleine Gruppe aus der sechsten Klasse die Übungen aus.

„Capoeira ist eine Kampf-Tanz-Sportart“, erläutert Heiko Wiebusch. Der 22-Jährige studiert elementare Musikpädagogik in Hamburg und spricht nach einem einjährigen Brasilienaufenthalt fließend Portugiesisch.

Nach den Aufwärmübungen beginnt der „Kampf“. Der allerdings hat mit europäisch oder gar asiatisch geprägten Kampfsportarten rein gar nichts zu tun. „Capoeira ist sehr vielfältig“, so Wiebusch. „Man kann sich diese Sportart individuell ausgestalten. Sicher gibt es auch Wettkämpfe, aber die machen  eigentlich wenig Sinn, denn statt gegeneinander kämpft man eher miteinander.“ Capoeira, keine Sportart also, bei der es vorrangig ums Gewinnen und Verlieren geht. Man sei in erster Linie bestrebt, „gemeinsam ein schönes Spiel zu haben.“ Capoeira, das sei eine philosophische Grundhaltung, viel mehr als bloß Tanz, Sport oder gar Wettkampf. „Beim Capoeira sind alle dann Gewinner, wenn es ihnen gelingt im Kreis, der die Welt symbolisiert, miteinander respektvoll in Kontakt zu treten.“

Capoeira hat seine Wurzel in der Sklavenzeit. „Die Sklaven hielten sich durch diesen Tanz fit und ohne Waffen kampfbereit“, weiß Joschka Wiebusch.

Ein Jahr lang ist Capoeira-Coach Thiago Ferreira in Hameln zu Gast, und wirbt im Rahmen einer Unterrichts-AG am Schiller-Gymnasium aber auch in anderen Einrichtungen für den Capoeira-Sport. Der 26-jährige Sohn eines Jazz-Schlagzeugers aus Belo Horizonte ist als erster Freiwilliger im Rahmen eines von den im Ökumenischen Zentrum zusammengeschlossenen Gemeinden getragenen   partnerschaftlichen Austauschs nach Hameln gekommen. Julienne Wismeier arbeitet an führender Stelle in der entsprechenden Projektgruppe mit. „Zum Ökumenischen Zentrum gehören die evangelisch-lutherischen Kirchengemeinden St. Johannis in Klein Berkel und St. Martin in Ohr und die römisch-katholischen Gemeinden St. Elisabeth und die Filialkirche St.Vizelin.“

Seit 1981 besteht eine Partnerschaft mit den Pfarreien „Cristo Luz dos Povos“ und „Jesus Missionario“ in der  brasilianischen Millionenstadt Belo Horizonte.

„Viele Einwohner dort leben in den Armenviertel, den Favellas. Wir unterstützen diese Menschen mit verschiedenen Projekten, vor allem fördern wir die Arbeit der KiTas vor Ort“, erklärt Wismeier.

In vierjährigem Rhythmus kommen jeweils einige Besucher aus Brasilien nach Hameln, und besuchen ebenso viele die lateinamerikanische Partnergemeinde.

Joschka Wiebusch war der erste Hamelner, der nach seinem Abitur 2010 für ein ganzes Jahr nach Belo Horizonte ging. „Gefördert haben das das Bistum Hildesheim und die evangelische Landekirche“, erklärt er. „Für mich eine wichtige Erfahrung, denn das Lebensgefühl dort unterscheidet sich wesentlich von unserem.“ Man nutze drüben etwa eine blumenreichere Sprache, um dem anderen etwas zu sagen ohne ihn zu verletzen, und auch das Zeitverständnis sei völlig anders. „Wir denken seriell, die Südamerikaner eher parallel. Von uns als unhöflich empfundene Verspätungen haben drüben einen völlig anderen Stellenwert“, so Wiebusch.

Während seines Aufenthaltes in Belo Horizone hat Wiebusch auch Thiago und den Capoeira-Sport kennen- und schätzen gelernt. Thiago versteht zwar kaum ein Wort Deutsch, doch er lächelt, denn die beiden jungen Männer verstehen sich gut. Der junge Brasilianer, dessen Äußeres sofort an südamerikanische Fußballstars denken lässt, sei mit einigen typisch brasilianischen Vorurteilen nach Deutschland gekommen, schmunzelt Wiebusch. „Etwa, dass die Nordeuropäer alle temperamentlos und kühl seien. Aber er hat schnell gelernt, dass das nicht so ist.“ Die einzige Kälte, die der junge Brasilianer zu spüren bekommen habe, sei der Schnee auf dem Flughafen Frankfurt gewesen. Den habe er erst einmal durch seine Finger rinnen lassen, denn so etwas hatte er noch nie gesehen.

Doch trotz Winterwetter trägt  Capoeira-Lehrer Thiago Ferreira viel lateinamerikanisches Feuer in sich, und so springt der Funke schnell über auf seine Schülerinnen und Schüler. Auch wenn die noch etwas ungelenkt den Kampf-Tanz üben, so wird in der Turnhalle des Schiller-Gymnasiums schnell klar, was das Capoeira-Geheimnis ist: sich mit reichlich innerer Gelassenheit von den Zwängen des Alltags zu befreien, und im berührungslosen Scheinkampf gemeinsam mit seinem Gegenüber physische und psychische Freiheit zu gewinnen.

Auch an diesem Mittag gelingt es Thiago den jungen Teilnehmern in der Schiller-Sporthalle zu verdeutlichen: beim Capoeira geht´s einzig um ein befreites Miteinander. So steht Capoeira, der Kampf-Tanzsport, symbolisch auch für die Ziele der ökumenischen Partnerschaft zwischen den Hamelner Kirchengemeinden und Belo Horizonte.

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