Bad Münder im Nationalsozialismus
Bad Münder im Nationalsozialismus
Dienstag, 18. November 2014
„Die gehören erinnert! Warum wird hier nicht dazu gearbeitet?“ fragt der hannoversche Historiker Heiko Arndt mit spürbarer Entrüstung. Und verliest eine lange Liste mit Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, zumeist Sozialdemokraten und Kommunisten. Was Heiko Arndt in seiner knapp 400 Seiten starken, jetzt als Buch erschienen Dissertation in jahrelanger Archivarbeit zusammengetragen hat, lässt die Zuhörer im „kleinen Theater“ des Schulungszentrums der IGBCE am Deisterhang erschaudern.
Akribisch hat Arndt die Akten des ehemaligen Altkreises Springe im hannoverschen Hauptstaatsarchiv durchforstet und in packende Lokalgeschichte umgesetzt. Alltagsgeschichte von der Weimarer Zeit bis zum Ende des Dritten Reiches, mit verschiedenen Erzählsträngen und Exkursen. Schnell wird deutlich, auch die Münderaner haben sich mehrheitlich schuldig gemacht, sich bis zur Ausweglosigkeit ins Terrorsystem des Nationalsozialismus verstrickt haben.
Es ist besonders erschreckend, dass sich vor allem die Mitglieder der bürgerlich-konservativen, ganz im Stil einer Kaste organisierten Reihebürgerschaft durch eine immer größer werdende Nähe zum NS-System auszeichneten, das allgegenwärtige Korruption und eine umfassende Denunziation am Ende in Bad Münder ein Klima der Angst erzeugten, dem keine mehr entfliehen konnte.
Besonders hat Arndt die Rolle des Springer Landrates Mercker und des Münderaner Bürgermeisters Kleineck untersucht, entlarvt sie als Erfüllungsgehilfen des Terrors, die sich nach dem Krieg zu Judenrettern und Verhinderern von Schlimmerem stilisierten und sich bei der Entnazifizierung gegenseitig deckten.
Arndt nennt Ross und Reiter, sein Buch ist gespickt mit durch Akten belegte Enthüllungen, die deutlich machen, dass viele Münderaner willfährige Beförderer des Nazi-Terror waren.
„Am Ende war kaum noch einer unverstrickt in das System, kaum noch unbefleckt, das haben die sich selber eingebrockt“, so Arndt.
Ein „wir mussten ja“ gab es nicht, selbst die Forstverwaltung habe Schuld auf sich geladen.
„All das verschaffte dem NS-System Wirksamkeit, und niemand konnte und wollte protestierten, als der LKW dann die Juden abtransportierte.“
Ob der Nettelreder Kreisbauernführer Siegmann, die 1943 in Wolfenbüttel enthauptete Grete Weschke, Gründerin der örtlichen NS-Frauenschaft und Hauptakteurin des wohl größten Korruptionsskandals der münderschen Geschichte, die reaktionären Reihebürger, Landrat Mercker, Bürgermeister Kleineck, der Gründer der NSDAP-Ortsgruppe Wilhelm Homeier, aber auch viele namenlos Münderaner, sie alle taten sich bei der Verfolgung von Linken und Juden hervor.
Kein Zweifel, Heiko Arndts Buch wird für Furore sorgen und den bisherigen Bemühungen, das dunkelste Kapitel der Münderaner Geschichte angemessen aufzuhellen, neue Dynamik verleihen.
Heiko Arndt, „Kampfzustände“. Alltag, Streit und Radikalisierung im nationalsozialistischen Bad Münder. Erschienen in der von Hans-Dieter Schmid und Karl-Heinz Schneider herausgegebenen Reihe der hannoverschen Schriften zur Regional- und Lokalgeschichte der Leibniz Universität Hannover, Bd. 23, Verlag für Regionalgeschichte Bielefeld 2014, 387 S., 24 Euro