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„Am Ende können Sie nur weinen“

„Am Ende können Sie nur weinen“

Donnerstag, 27. Juni 2019
Bild: Erforscht den jüdischen Friedhof seit vielen Jahren. Bernhard Gelderblom.

Der schwarzglänzende Grabstein von Dr. Siegmund Kratzenstein ist neu. Er steht an der Ostseite des alten jüdischen Friedhofs an der Scharnhorststraße. Fast wie angelehnt an die Mauer zum roten Backstein-Wohnhaus nebenan. Mit einer fast zärtlichen Geste streicht der Hamelner Historiker Bernhard Gelderblom über den Stein und berichtet mit leiser Stimme vom Schicksal des Hamelner Mediziners: seiner Frau aus Holland, den Töchtern, die an der Vikilu Griechisch lernten, vom Eckhaus mit Praxis am Kastanienwall, von der schleichenden Entrechtung nach 1933, vom SA-Terror in der Reichspogromnacht, von Deportation und Tod. „Am Ende können Sie nur weinen“, sagt Gelderblom und die Besucher der Führung verstummen betroffen.

Der alte jüdische Friedhof an der Scharnhorststraße, der von der Hamelner jüdischen Kultusgemeinde betreut wird, sei ein Stück Erinnerungs- und Gedächtniskultur, meint der Historiker Edward Menking von Verein für regionale Kultur- und Zeitgeschichte. Der wird in diesem Jahr zehn Jahre alt und hat sich im Jubiläumsjahr ganz besonders den Hamelner Friedhöfen gewidmet.

Seit mehr als 30 Jahren hat Bernhard Gelderblom die Geschichte des Ortes akribisch aufgearbeitet und in einer umfangreichen Publikation veröffentlicht.

Er wolle mit der Führung „den Menschen diese irre Scheu“ nehmen, so Gelderbloms Absicht. „Das ist ein schweres Erbe“, sagt er in Richtung der Vertreter der orthodoxen jüdischen Kultusgemeinde, die zusammen mit rund 40 Besuchern an der sonntäglichen Führung teilnehmen. „Am Tag zuvor, am Sabbath, ist das nicht möglich“, so Gelderblom, der an diesem heiligen Ort wie alle Männer eine Kopfbedeckung trägt, Der Friedhof als „unreiner“ Ort werde von Juden möglichst gar nicht betreten, auch gäbe keinen Blumenschmuck oder prächtig ausgeschmückten Grabsteine. Im alten Teil finden sich durch wuchernden Efeu ständig bedrohte, teils bemooste Grabsteine, im westlichen Teil frische Gräber aus der Gegenwart.

1743 sei das Gelände angekauft worden. Hier draußen am Sandfeld, denn die Bastionen und Schanzanlagen der Festung Hameln hätten den alten jüdischen Friedhof verdrängt, weiß Gelderblom. Der älteste Grabstein stamme von 1741, der letzte wurde 1935 gesetzt.

Ausführlich geht Gelderblom auf die Gestaltung der Steine ein. Er hat jeden erfasst und dokumentiert, die Inschriften übersetzen lassen. „Hier wurde in zeitlicher Reihenfolge der Todesfälle beerdigt“, erklärt er. Und macht den Wandel der Steingestaltung deutlich, zeigt auf, dass die Hamelner Juden zunehmend bestrebt waren, sich zu assimilieren, Teil der Hamelner Gesellschaft zu werden.

Neben den sich wandelnden Gestaltungsprinzipien kann Gelderblom aber auch viele Schicksale berichten: von Hertz Josef Detmold, dem Schwiegervater der Glückel Hamel, der Familie Oppenheimer, dem fürchterlichen Schicksal des Sohnes von Adolf Franck, der 1933 von den Nazis in den Selbstmord getrieben wurde. Die Schilderungen gehen unter die Haut. Gelderblom berichtet von Zeugenaussagen über heimliche Bestattungen, Grabsteinschändungen durch Männer aus der Nachbarschaft, Steinmetze, die sich weigerten für Juden zu arbeiten, und weist auf beredte Leerstellen auf Steinen hin. „Deportiert und ermordet.“

So entsteht an diesem Sonntagmittag ein beklemmendes und anrührendes Bild eines der dunkelsten Kapitel der Geschichte. An einem Ort, der wie verwunschen scheint, mitten in Hameln.

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