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Was geschah mit Albert Fels?

Was geschah mit Albert Fels?

Dienstag, 22. September 2020
Bild: Kolja Mensing las auf dem Hermannshof in Völksen

Völksen. Fels, das war Albert Fels, der jüdische Viehhändler. Für den 1971 in Oldenburg geborenen Kolja Mensing ist er „die Geisterfigur aus dem Familiengedächtnis“. Es sind Geschichten, die Kolja schon oft gehört hat. Immer und immer wieder. Dann, wenn an der sonntäglichen Kaffeetafel von früher erzählt wurde. Beschwörend, verdrängend, ein Ritual. Albert Fels aber kam darin nicht vor.

Doch hinter der so oft gehörten Geschichte von der 13-jährigen Schülerin, die im Frühjahr 1940 mit einem Wehrmachtssoldaten Briefe tauschte und sich drei Jahre später mit ihm verlobte, lauert eine andere, bislang nicht erzählte Geschichte. Eben die von Albert Fels, der während der Kindheit von Kolja Mensings Großmutter im Haus nebenan wohnte, bei Kriegsbeginn in eine Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen wurde – und nie wieder zurückkam. „Man weiß ja, was passiert ist.“ Mehr wusste die Großmutter bislang dazu nicht zu sagen.

Kolja Mensing hat nachgefragt, hat gesucht, in Steuerlisten und Kirchenregistern gewühlt, ist in Kistchen, Briefen und verstaubten Schachteln fündig geworden. Wer also war dieser Albert Fels? Was wurde aus ihm? Wie kam er tatsächlich ums Leben? Mensing deckt das Leben eines recht wohlhabenden jüdischen Viehhändlers aus dem Südniedersächsischen auf, recherchiert dessen schleichenden Niedergang und seine Einbindung in die Familiengeschichte, lässt die „Geisterfigur“ in den dunklen Schatten von Euthanasie und Holocaust sichtbar werden.

„Zu jeder Liebe gibt es eine dunkle Ecke“, sagt der Autor, der für seinen in Jörg Sundermeiers Berliner Verbrecher Verlag erschienenen 175 Seiten-Roman im Oktavheftformat keine Genrezeichnung angibt. „Vielleicht ein autofiktionaler Roman“, schlägt Sundermeier vor. „Einer, der Ankerpunkte setzt und ansonsten Gehörtes und Erfahrenes mit imaginierter Erinnerung erzählerisch verdichtet“, sagt Mensing.

Bild: Kolja Mensing (re.) und sein Verleger Jörg Sundermeier

Die, freilich auf Abstand gesetzten, Zuhörer von Mensings gut besuchter Lesung im von frühherbstlichem Wind durchwehten „Haus im Park“ suchen nach der passenden Schublade. „Sachbericht, Tatsachenroman, zu Papier gebrachte oral history? „Jedenfalls Literatur“, stellt Kolja Mensing fest. Die Freiheit des Schreibens nutzen, um Geschichte und Geschichten neu erzählen und so mit neuer Perspektive über den Nationalsozialismus reden zu können? Der Autor ist sich sicher: „Täter, Opfer, Mitläufer, das reicht nicht mehr. Die Art über diese Zeit zu reden verändert sich.“ Die 68er hätten noch „recht abstrakt“ mit ihren Eltern über die Nazis geredet, sich auf große Haupt- und Staatsaktionen beschränkt und damit „die kleinere Geschichte traumatisch überlagert“, so Jörg Sundermeier. Kolja Mensing aber gelingt die Synthese von persönlicher Erinnerungs-, möglicherweise auch Selbstfindungs- und Trauerarbeit und historischem Kontext. Was auch in der mit der vermeintlichen „Gnade der späten Geburt“ beschenkten Generation der Kinder und Kindeskinder an die persönliche Substanz gehen kann. „Man muss bei sowas wohl auch auf sich selbst aufpassen“, gesteht Kolja Mensing. „Tja, noch immer ist der Krieg in uns und kein Ende in Sicht“, bestätigt auch Sundermeier.

Immerhin kann die Frage, wieviel Nazi-Zeit in einer Liebesgeschichte wie der von Koljas Oma steckt, endlich gestellt werden, ist die strikte Trennung der Großmutter, die Privates von Politischem scheidet, überwunden.

„Geister“ wie der des Albert Fels und seinem „Leben in den Steuerlisten“ werden endlich lebendig.

„Kann man Geschichte wirklich so erzählen?“, fragte eine Besucherin der Lesung. Ja, man kann nicht nur, man muss sogar. Warum? Um eine Tür aufzustoßen, neue Zugänge, letztlich auch zu sich selbst zu schaffen, und zu begreifen, was aus dieser Zeit noch in uns fortwirkt. Und um die Geschichten ins Licht bringen zu können, die hinter den Kaffeetisch-Erzählungen von Eltern- und Großeltern darauf warten endlich doch noch erzählt zu werden.

Kolja Mensing: Fels. 175 Seiten. Erste Auflage, erschienen im Verbrecher Verlag Berlin 2018

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