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Eine Spätherbst-Geschichte (mit Hörbeitrag)

Eine Spätherbst-Geschichte (mit Hörbeitrag)

Freitag, 27. November 2020

„Jeder ist seines Spätherbstes Glück“                  

von Inge Merkentrup

Inge Merkentrup LV Nord

Auch wenn Sprüche nicht meinen Alltag bestimmen: Ich muss raus an die frische Luft. Gesagt, die Tat folgt. Ich nehme den Textil-Sattelschutz vom Fahrrad und steige in die Pedalen. In einer Stadt wie Oldenburg hat man ein Fahrrad zu haben, entweder ein eigenes oder ein geklautes; denn in dieser Stadt ist das Radfahren keine Kür, sondern eine Pflicht.

Tief durchatmen, den Fahrtwind genießen, so soll meine Radtour sein. Doch nach wenigen Metern spüre ich die Feuchtigkeit des Nebels. Novembertag. Wie ein schweres Tuch liegt die wässrige Luft über der Stadt. Kein Durchkommen für die Sonne. Die Haut an meinen Händen zieht sich zusammen. Warum nur habe ich die Handschuhe nicht dabei? Die Mütze tut meinen Ohren gut. Mützen sind in diesem Herbst das „Must-have“; ohne geht gar nichts, wenn ich der Werbung glauben will. Meine dunkelblaue Mütze ziert ein beliebtes Modelabel. Einheitsgröße. Nach einem Kilometer rutscht sie mir in Augenhöhe. Das stört mich natürlich. Mit der linken Hand bugsiere ich das Textilstück wieder auf Stirnhöhe und warte ab. Tatsächlich, die Mütze bewahrt ihre Position.

Die Kälte steigt die Beine hoch, schnell steigere ich das Tempo.  Dörfliche Idylle umfängt mich. Die Felder sind befreit vom Mais, die Gräben am Rande gut mit Wasser gefüllt. In der Ferne erahne ich die Bauernhäuser, registriere wie nebenbei die wenigen vorbeifahrenden Autos auf der Landstraße. Ohne Motoren-Unterstützung liege ich bei einem Tempo von ca. 18 km/h. Das kann ich abschätzen. Alles Routine. Nicht weit vor mir habe ich die Autobahn, die ich allerdings vor lauter Nebel nicht sehen, aber hören kann. Ich biege bei nächster Gelegenheit nach links ab und muss noch stärker in die Pedalen treten, denn der Wind kommt von vorne. Falsche Planung, umgekehrt wäre die Tour angenehmer. Warum nur habe ich den Westwind nicht bedacht? Jeder Erwachsene in Norddeutschland weiß, dass man sich auf ihn verlassen kann. Mit penetranter Energie schiebt er Kälte oder Nässe vor sich her.

Irgendwie wird mir wärmer. Klar, die ersten zehn Kilometer machen sich wärmetechnisch positiv bemerkbar. Doch da muss noch etwas anderes sein. Ich schaue vom Radweg hoch nach rechts – und sehe die Autobahn! Ein schmaler Streif blauen Himmels hat den Nebel durchbrochen. Die Bauernhäuser mit den roten Klinkern geben ihre Silhouette frei. Schon fahre ich an den sie weiträumig umgebenden Rhododendron- und Lorbeerhecken vorbei, die durch ihr kräftiges Grün wirken.

Ein Ginkgo im Herbstkleid. Foto: Merkentrup

Meine Augen fangen an zu blinzeln. Wahrlich, die Sonne verdrängt den Nebel. Wie wunderschön strahlt das Herbstlaub der Bäume! Die leuchtend gelben Farben der Ginkgo-Blätter konkurrieren mit den roten und gelben Blättern des Japanischen Ahorns, die Felsenbirne mit ihrer orange bis dunkelroten Blätterfärbung wirkt ebenso intensiv wie der Wilde Wein, dessen Laub blut- bis feuerrot ist. Diese natürliche Schönheit! Sie ist vom menschlichen Auge nicht zu fassen. Ich genieße meine Fahrt vorbei an Essigbäumen in ihrem malerischen Wuchs und ihren Fruchtständen in kräftigem Rot. Ich bin erfüllt von diesem Herbstschauspiel.                    

Noch einen Kilometer, dann werde ich auf der Terrasse sitzen. Wie schön, dass sie nach Süden hin überdacht ist. Die wärmenden Sonnenstrahlen werden meine Gesichtshaut ummanteln und ich werde von der Terrasse aus sehen, wie das Sonnenlicht die letzten gelben Rosenblüten zum Strahlen bringt.

Eine echte Tee-Zeremonie werde ich abhalten, ein Ostfriesen-Ritual mit allem, was dazugehört. Vor mir sehe ich unsere dünnwandigen Ostfriesen-Teetassen aus feinem Porzellan mit passender Kanne und passendem Stövchen, den reich verzierten Sahnelöffel und die Zuckerzange. Wenn der Kandis den Tee zum Knistern gebracht hat, dann beginnt für mich der pure Genuss.

In diesem Hochgefühl biege ich um die Ecke unserer kleinen Straße – und falle fast vom Fahrrad! Ohrenbetäubender Lärm empfängt mich. Haben sich alle männlichen Nachbarn gegen mich verschworen? Der eine läuft mit grüner Latzhose, grünem Sweatshirt und grünen Gartenschuhen hinter seinem Benzinrasenmäher her. Lauter kann ein Rasenmäher nicht sein, das wüsste ich! Der andere macht sich mit seiner elektrischen Heckenschere an seiner Buchsbaumhecke zu schaffen, 20 Meter lang, und er ist erst am Anfang. Warum hat einzig und allein nur seine Buchsbaumhecke den Zünsler überlebt, warum haben die Raupen dieses ostasiatischen Kleinschmetterlings nicht auch seine Hecke kahlgefressen wie bei uns allen in der Straße!  Und soll ich etwa noch freundlich den Nachbarn grüßen, der mit seinem Laubbläser das Nonplusultra aller gärtnerischen Lärmquellen erreicht?

 Mein Lebensanker ist die Gartentür. Nichts wie runter vom Rad und rauf auf die Terrasse. Ich halte inne. Der Lärm dringt penetrant an mein Ohr, Unruhe ummantelt meinen Körper. Ich blinzle in die noch wärmenden Sonnenstrahlen an diesem herrlichen Herbsttag, blicke auf den Gartenstuhl und denke traurig: „Tee – ade .“

Ich öffne die Haustür und ziehe meine Jacke aus. Aus dem Bad dringt die Stimme meines Mannes. „Die Sauna ist noch an. Willst du dich auch verwöhnen?“  Welch gute Idee! Dieser Herbsttag, er hat nur gute Momente  –  fast nur. 

Die Autorin über ihren Text. Ein Hörbeitrag von Christoph Huppert
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