Zeilen Sprung – Das Redaktionsbüro

05042 - 504 008

info@zeilen-sprung.de

Das stumme Radio

Das stumme Radio

Dienstag, 22. Dezember 2020

Sie sagen, ich sei ein Radio-Junkie. Da mag was dran sein, zieht man zumindest die Zahl der Radioapparate und andere Empfangsmöglichkeiten ins Kalkül. (Keine Sorge GEZ-Anwälte, alles angemeldet und bezahlt). Da hat sich in den vergangenen Jahrzehnten so einiges angesammelt. Das Kofferradio, das ich zur Konfirmation Anfang der 60er bekommen habe, ein Telefunken Bajazzo TS, das selbstgebastelte Solarradio aus jener, freilich sehr kurzen, Periode als ich mich in den Wahn verstieg, Elektrotechnik zu studieren, die schwarze Hifi-Anlage mit hochwertigen Bausteinen von Sony und Pioneer, die ich mir nach dem Studio zusammen mit einem Weltempfänger von Grundig mit dem vielversprechenden Namen „Satellit“ leistete, das unermüdlich dudelnde Küchenradio meiner Mutter, dessen Skalenglas ein hauchdünner Fettfilm ziert, der große Saba meiner Eltern aus den Wirtschaftswunderjahren, den ich in einem Anfall von Altruismus dem örtlichen Museum als Leihgabe für eine 60er Jahre-Ausstellung übergab, und nie wiedersah. Verteilt man all diese radiofonen Kostbarkeiten (das sind sie zumindest für mich, “Bares für Bares-Händler mögen das anders sehen), überall im Haus und schaltet denselben Sender ein, so entsteht ein einzigartiger Klangteppich, der vor allem nachts eine nahezu surreale Atmosphäre schafft. Es entsteht eine innere Bühne im Kopf, auf der sich die Töne etwa von Hörspielen in der akustischen Dimension zu einem inspirierenden Spektakel zusammenfinden. In diesem Klanghaus in den Schlaf hineinzudämmern, ist seit vielen Jahren ein einzigartiges Erlebnis.


Ein Apparat freilich bleibt stumm. Blickt vom höchsten der Bücherregale im Arbeitszimmer mit seinen drei schwarzen Bakelit-Drehknöpfen und seiner wie viereckige Augen ausgeformten Lautsprecher- und Senderanzeige auf der Frontseite tonlos ins Zimmer hinab. Doch eben das stumme Radio im Format eines kleinen Postpaketes ist für mich beredter als alle anderen Empfänger zusammen. Längst habe ich den vergeblichen Versuch aufgegeben, die angestaubten Röhren durch kraftvolle 230 Volt anzuheizen. Was die nach einigen Minuten mit leicht brandigem Geruch und einem anschwellenden Rauschen auch brav tun. Längst aber kann ihnen die spiralförmige Wurfantenne keinen auch noch so schwachen Impuls mehr zuführen. Einzig das Rauschen bleibt. Immerhin, das Echo des Urknalls, das ist doch auch etwas. Seit die Mittelwelle abgeschaltet wurde, bleibt die Suche auf der schon lange nicht mehr beleuchteten Senderskala aussichtslos. Die dort aufgeführten Stationen waren, mit Ausnahme des überstarken Deutschlandfunks, ohnehin nie zu hören. Hilversum, Stockholm, Moskau, Wilna, Bukarest und natürlich das sagenhafte Beromünster. Radiostationen, die wie die Lektüre des vergilbten Diercke-Atlas zu Fantasiereisen inspirierten.

Heute aber nimmt mich der alte Radiokasten mit auf eine andere Reise. Er begleitet mich beim mitunter aus Einsamkeit und depressiver Stimmung geborenen Spiel, mich im abgedunkelten Zimmer so weit wie es geht zurückzuerinnern, den ersten Bewusstseinsimpulsen meiner Frontallappen-Neuronen nachzuspüren. Was nicht immer, aber doch manchmal funktioniert, und so führt mich der stumme, rauschende Kasten dann zurück ins Kinderbettchen der Zweizimmer-Mansardenwohnung an der Leine in Göttingen, verwandelt sich sein Rauschen ins Rattern der nahen Eisenbahn, dringen Stimmen der Eltern an Ohr und Bewusstsein, die allwöchentlich Freunde ins Nebenzimmer eingeladen hatten, um Hörspiele zu hören. Und so mischten sich Stimmen und Gläserklingen mit Radiomusik bis endlich das Hörspiel begann.

Was mögen Sie gehört haben? Günter Eichs legendäre „Träume“ sicherlich, die voll Empörung diskutiert wurden, all die Klassiker der frühen 50er, später wohl Straßenfeger wie Francis Durbridges´ „Paul Temple“ mit René Deltgen, vielleicht, nein ganz bestimmt auch Herbert Zimmermanns WM-Reportage aus dem Berner Wankdorf-Stadion („Aus dem Hintergrund müsste …“), wobei der Ritterkreuzträger die spätere TV-Ikone Robert Lemke als Assistent an seiner Seite hatte. Erinnerungen, die immer wieder im Rauschen und im Strom von Zeit und Gedanken verebben.


Mit dem Bajazzo TS geriet der alte Kasten aus den Augen, besser aus den Ohren. Statt der Suche nach Beromünster und Radio Bukarest war Anfang der 60er Radio Luxemburg angesagt, auf Kurzwelle, ein Jahrzehnt, das die Welt veränderte, Stones, Beatles, Dutschke, Apo, 68er, Deutschlandradio und WDR 2-Mittagsmagazin, nachmittäglicher Radiokonsum für rebellierende Schüler und Studenten, die atemlos den Korrespondentenberichten über den Prager Frühling lauschten. Und ja, nach dem Radiohören wurde diskutiert.


Zwar ebbte die Radiokultur irgendwann mit der unerbittlichen Ausbreitung der Dudelfunk-Hör(un)kultur ab, doch blieb die Liebe zum Medium ungebrochen. Das stumme Radio verstaubte zwar, widerstand aber ein ums andere Mal dem Sperrmüll, überlebte sogar etliche Umzüge. Kann das weg? Nein. Mit der Zeit wurde der Empfang immer schwächer und dann kam der Todesstoß mit dem Ende der Mittelwelle.


Egal. Mir ist die alte Kiste lieb und teuer. Die Frau ist weg, die Kinder aus dem Haus und Weihnachten, da liebe ich es am Fenster zu stehen, hinaus in die dunkle, sogenannte Heilige Nacht zu schauen und mich vom Rauschen und den Erinnerungen umfangen zu lassen. An weihnachtlich glänzende Zimmer voller Tannenduft, und den Vater, der alljährlich den „Gruß an Bord“ des Norddeutschen Rundfunks hörte und dabei einige Tränen vergoss, hatten ihn die Nazis doch um seinen Lebenstraum zur See zu fahren gebracht. „Morgen spenden wir was für die Deutsche Gesellschaft zur Rettung von Schiffbrüchigen“, so sein alljährliches Heiligabendversprechen.
Zur Weihnacht allein? Das halte ich aus. Dank meines stummen Begleiters, der mich in traumhafte Erinnerungen entführen kann. Und möglicherweise klingt es erst leise, dann aber mit unzweifelhafter Gewissheit durchs dunkle, leere Haus. „Stille Nacht, heilige Nacht.“

Weitere Einträge