„Nachwehen“ im Martin-Schmidt-Konzertsaal
„Nachwehen“ im Martin-Schmidt-Konzertsaal
Sonntag, 13. März 2022
Am Ende war das Publikum mehrheitlich tief erschüttert. „Was für ein beklemmendes Stück, überspitzt sicherlich, aber das Ausgeliefertsein dieser Frau, wirklich gruselig“, diskutierte eine kleine Zuschauergruppe nach der Aufführung.
Wie weit geht man, um seinen Job zu behalten? Das ist die zentrale Frage in Mike Bartletts messerscharfer Satire „Nachwehen“ (Contradictions), einem Zwei-Frauen-Stück, das die bereits sechsmal im Egestorfer „Schaafstall“ zu Gast gewesene, in München lebende und aus der Schweiz stammende Annette Wunsch zusammen mit Felicitas Heyerick auf die Bühne des Martin-Schmidt-Konzertsaals brachte.
Das Geschehen entwickelte sich zu einer wahren Albtraum-Dystopie: von der mitunter grotesk-witzigen juristischen Formelhaftigkeit eines die Arbeitnehmerin (Felicitas Heyerick) bis ins Intimleben maßregelnden Arbeitsvertrages bis in die menschenfeindlichen Dimensionen einer einen Orwellschen Überwachungsstaat fast noch übertreffenden, völligen Vereinnahmung und Entmenschlichung.
Während Annette Wunsch als Personalmanagerin scheinbar kalt, herrisch und ohne Mitgefühl die menschenverachtenden Regeln ihrer Firma gnadenlos umsetzte, fühlte und litt das Publikum mit der in die Katastrophe hilflos hineingleitendenden Angestellten. Deren scheinbare Wahl zwischen Freiheit und Karriere entpuppte sich alsbald als ein auswegloser Sturz in völlige Abhängigkeit und persönliche Zerstörung.
Felicitas Heyerick zu ihrer Rolle: „Das ist eine emotionale Reise, an deren Ende leider die Fügung in das Schicksal steht. Sie ordnet sich widerstandslos in das System ein, ohne Gegenwehr, völlig abgeschliffen und abgestumpft.“
„Mich geht das Stück jeden Abend wieder an“, gestand Annette Wunsch. Viel hänge dabei vom Publikum ab. „Im ersten Teil wird ab und an auch viel gelacht, doch im zweiten Teil gibt es dann wenig zu lachen. Im Gegenteil.“ In Bad Münder habe sie von Anfang an große Betroffenheit gefühlt. „Schön, wenn die Zuschauer die künstlerischen Mittel des Theaters erkennen, aber das macht es oft nicht einfacher“, so die Schauspielerin.
Vor gut zehn Jahren sei ihr das Stück angeboten worden, habe dann lange in der Schublade gelegen, ehe sie sich nach einer gemeinsamen Lesung mit Felicitas Heyerick zur Produktion entschlossen habe.
Drei große, in wechselndem Abstand positionierte blaue Bürotische fungieren in der Inszenierung von Marco Luca Castelli als physische Indikatoren des dramatischen inneren Verlaufs. Ein rot beleuchtetes Terrarium verleiht dem ins Absurde abgleitenden Spiel einen besonderen Effekt. Lauert hier eine Gottesanbeterin auf ihre Opfer?
Arbeitnehmer als „menschlicher Rohstoff“, als verfügbare Ware, so Mike Bartletts vordergründige Kritik. Doch hinter der entschlüsseln sich auch zwei persönliche Dramen. Auch die „Täterin“ hat einen Preis gezahlt, deutet zwischendurch immer wieder ihre schon vollzogene Entmenschlichung an. Ihr Opfer wird ihr folgen.
„Wir haben zwei Fassungen vorbereitet, einmal als Kammerspiel, das wir im engen Schaafstall gezeigt hätte, einmal die Fassung für große Bühnen so wie hier“, erklärte Annette Wunsch.
Auch wenn die Lichtinszenierung im Saal technisch versagte, blieb trotz „Arbeitslicht“ der Eindruck von einer an dieser Stelle selten erlebten Beklemmung. Egal, ob nun als rein literarisches Stück oder an der Realität orientieren Dystopie verstanden, selten hat ein Stück dank der Leistungen der beiden Darstellerinnen wohl so erschüttert. In diesem Sinne also ein echtes, großartiges Theatererlebnis.