Martin Weller
Martin Weller
Sonntag, 11. April 2010
Das überdehnte Jahrhundert der Klassik
Was für eine geballte Ladung Musikgeschichte! Und nicht nur das, denn in seiner Konzerteinführung zum 4. Hamelner DEWEZET Classics-Konzert stellte der Orchesterdirektor des Braunschweiger Staatsorchesters, Martin Weller, nicht nur die am Dienstag im Konzert erklingenden Stücke und deren Komponisten vor, sondern verortete sie in seiner manuskriptlosen kultur- und musikhistorischen Vorlesung auch überaus eindrucksvoll im jeweiligen historischen Kontext.
Bild: So funktioniert die Sonatenhauptsatzform – Orchesterdirektor Martin Weller erklärt.
Die drei Sätze der „Sinfonie Nr. 5 h-moll“ von Bach-Sohn Carl Philipp Emanuel etwa sezierte Weller als „Profanisierung des Materials“ des Übervaters Johann Sebastian; Felix Mendelssohn-Bartholdys 1822 im Alter von 13 Jahren komponiertes „Konzert für Klavier und Streicher a-moll“ entpuppte sich bei näherer Betrachtung als „Rückgriff auf die Vor-Beethovenzeit“, und in Tschaikowskys „Streicherserenade op. 48“ manifestierte sich die Westorientierung der Politik Peters des Großen aber auch nationalrussische Elemente.
Barock, Rokoko, „Wiener“ Klassik, Sturm und Drang, Empfindsamkeit, Romantik, höfischer Absolutismus, Französische Revolution, Biedermeier und Vormärz, Weller gelang es, in einem kunstformübergreifenden Längsschnitt Strukturen deutlich werden zu lassen und sie auf die jeweils typischen Erscheinungsformen der „Zeitkunstform Musik“ zu beziehen. Vor- und Rückgriffe sowie Überlappungen traten dabei ebenso klar hervor wie Brüche, Kontinuitäten oder „Gemengelagen“.
„Alles speist sich aus einem überdehnten Jahrhundert der Klassik“, so Weller. Bis zur Gegenwart, denn „die Atonalität ist bis heute nicht mehrheitsfähig“. Der Historismus des ausgehenden 19.Jahrhunderts habe dann nur noch abgebildet, selbst Mendelssohn wieder Bach aufgeführt.
Das zentrales Formelement der klassischen Sinfonie, deren „historische Kraft“, die Sonatenhauptsatzform, veranschaulichte Weller anhand farbiger Legosteine und durch Hörbeispiele. So wurde über die Einsicht in die Form und die historischen Bezüge der Grundcharakter der im Konzert zu hörenden Werke bausteinartig in einer in dieser Weise selten zu hörenden Gesamtschau von sehr hoher Transparenz veranschaulicht. Kurz: eine Konzertvor- und aufbereitung par excellence.