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Der Türmer

Der Türmer

Dienstag, 13. April 2010

turmweb189 Stufen über der Hamelner Altstadt

Freitagabend 21 Uhr, am Pferdemarkt. Wo tagsüber jede Menge Trubel herrscht, findet sich jetzt kaum eine Seele. Nur ein einsames Pärchen studiert den Schaukasten der Marktkirche. „Zurzeit keine Turmbesteigung“ ist da zu lesen. Falsch, denn schon naht lautstark und mit raschen Schritten Ulrich Corcilius, der Türmer. Der 43-Jährige hat heute Premiere als städtischer Türmer, ist aber als Mitglied des Rattenfängerspiels und Halunke bei „Hexen und Halunken“ überaus erfahren im Umgang mit Gästen.

Gerd und Inge, das Ehepaar aus der Nähe von Kiel, sind zu Besuch in der Rattenfängerstadt, und wollen an diesem Abend unbedingt „auf den Turm“. Doch bis dahin müssen sich die Zwei gedulden. Vorab gibt es eine herzliche Begrüßung und ein Gedicht des lustigen Gesellen mit Laterne, Pfeifchen und Signalhorn.

Nein, nicht Goethes Türmerlied („Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt, dem Turme geschworen, gefällt mir die Welt“) zitiert Corcilius, sondern eine volkstümlich derbe Eigendichtung. In diesem Moment stößt Almuth Gattermann zur Gruppe. Sie ist die zweite der insgesamt drei Türmer. „Andreas Link ist auch noch mit dabei“, erklärt sie, und beantwortet gleich die wichtigste Frage des Abends. „189. So viele Stufen geht es beim Münster hinauf, bei der Marktkirche sind´s 207. Höhe der Türme: Münster 42, Marktkirche 52 Meter. Aber, Überraschung, auf welchen Turm es geht, das sagen wir euch erst am Ende der Führung“, so Gattermann. Dass die Resonanz auf die zweite Turm-Führung „sehr überschaubar“ ist, stört nicht. „Muss sich erst mal herum sprechen“, so die beiden Türmer.

Die Informationen über die beiden Hamelner Türmer, die vermutlich bis 1929 ihren Dienst in Wechselschicht ableisteten, sind spärlich. „Wir sind noch auf Suche im Stadtarchiv“, erklärt Almuth Gattermann. Einerseits seien die Türmer „von den Bürgern hochgeachtet“ gewesen, da sie für Sicherheit sorgten, andererseits zählte der Türmer im Mittelalter jedoch zu den „unehrlichen Berufen“. Gattermann: „Fest steht, dass sich das Wort ´türmen´ von den im Turm Schutzsuchenden ableitet.“

Vor dem Aufstieg liegt ein ausgedehnter Fußmarsch durchs nächtlich hell erleuchtete Hameln – und eine geballte Ladung Stadtgeschichte. Die beiden Kieler sind außergewöhnlich gut vorbereitet, wissen schon allerlei über den Klüt, die Weser, die Altstadt und natürlich den Rattenfänger. Que durchs mittelalterliche Hameln führt die nächtliche Tour: Pferdemarkt, die rekonstruierte Stadtmauer zwischen Haspelmath- und Pulverturm, Pfortmühle und Weserbrücke. Auch das Scherbenmeer, das das Gelage von Jugendlichen am Weserufer zusammen mit jeder Menge Lärm produziert, bewältigt die Gruppe ohne Schäden. Und dann steht sie plötzlich vor uns. In orangenes Licht getaucht, die Münsterkirche. Hoch oben im Nachthimmel leuchtet ein weißes Lichtchen wie ein einsamer Stern. Das Türmerzimmer. „Da geht´s rauf“, stellt Corcilius mit reichlich Entschlossenheit in der Stimme fest.

Die Holztüre quietscht, das dämmrige Licht in der nächtlichen Kirche lässt einen leicht gruseln. Hinter einer kleineren Holztür der schmale Aufgang. Nur eine Schulter breit, steil, sehr steil, winden sich die Stufen schier endlos nach oben. Wie erwartet geraten alle bis auf den vorauseilenden Türmer schnell aus der Puste. „Türmer waren fit und nicht dick“, stellt der zur allgemeinen Aufheiterung fest. Geschafft, die Wendeltreppe aus Stein ist zu Ende, und wird ersetzt durch eine wiederum scheinbar endlose Treppenkonstruktion aus Holz, die hinauf in luftige Höhe führt. Unterwegs ein Blick auf die Kirchengewölbe von oben. Ein Raum mit durch große Vorhängeschlösser gesicherten Verschlägen wird passiert. „Wie unheimlich“, murmelt die Kielerin. Das Herz klopft, der Puls jagt. Dann sehen wir durch eine Lücke in der Decke die Sterne. Endlich oben sind wir uns einig: „Was für ein grandioser Ausblick.“

Unter uns das nächtliche Lichtermeer Hamelns. Die hell erleuchtete Brücke überquert das dunkle Band der Weser. Scheinwerfer von Spielzeugautos flammen auf. In der Ferne Orientierungspunkte: die orangefarbene Pfortmühle, die hell erleuchtete Rattenfängerhalle. Auf der anderen Weserseite wie ein blinkendes Ufo im dunklen Himmel das Klüthotel, umgeben von nichts als Schwärze. Von unten dröhnt entfernt der Lärm feiernder Jugendlichen herauf. Es ist kühl und ein kalter Wind streift um die Holz- und Metallkonstruktion. „Sehr beeindruckend“, stellen die Kieler fest, und auch der agile Corcilius hält andachtsvoll einen Moment inne, schmaucht sei Pfeifchen und blickt versonnen in die Ferne. Das ist die Freiheit des Türmers. Gut nachvollziehbar wie der einsame Gesell vor langer Zeit, frei vom Trubel des Alltags, hier Tag und Nacht nach Feuer und Feinden Ausschau hielt und die Bürger unten mit speziellen Hornsignalen warnte.

Dann geht es wieder hinab. Unten tauscht man Adressen aus, und so geht eine fast familiäre, sehr interessante und beeindruckende Führung zu Ende. Was bleibt, ist ein Abend voll eigentümlichem Reiz, der ein Hameln aus ganz anderer Perspektive präsentiert hat, und die Erfahrung: Nicht erst über den Wolken, schon 189 Stufen über der Stadt kann die Freiheit grenzenlos sein.

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