Kruses Lessing Vortrag
Kruses Lessing Vortrag
Mittwoch, 16. Juni 2010
Rettung aus der „Eltern- und Schulhölle“
Er sei ein mäßiger Schüler gewesen, der nur mit Mühe 1892 am Ratsgymnasium Hannover sein Abitur abgelegt habe. So die Online-Enzyklopädie Wikipedia über den 1872 in Hannover geborenen und 1933 in Marienbad von Nazi-Schergen ermordeten linksintellektuellen Schriftsteller, Publizisten und Philosophen Theodor Lessing. Eine gleich in mehrfacher Hinsicht falsche, jedoch auch von anderen Quellen ungeprüft kolportierte Information. Lessing, so Jürgen C. Kruse in seinem Vortrag vor der Hamelner Bibliotheksgesellschaft, habe das Abitur am 10.09.1892 am Städtischen Gymnasium (dem heutigen Schiller-Gymnasium) in Hameln gemacht.
Die hannoversche „Schulhölle“ habe Lessing allerdings anfangs ebenso durchlitten wie die von einem heftigen Vater-Sohn-Konflikt geprägte „Elternhölle“. Zweimal blieb der junge Gymnasiast sitzen, ehe ein Bücherwurf an den Kopf des verhassten Lehrers zum Rauswurf aus der ungeliebten Lehranstalt wurde.
Auf Wunsch des Vaters kommt Lessing nach Hameln, wo ihn der Direktor des Städtischen Gymnasiums, Heinrich Dörries, genannte „der Gelbe“, „tatkräftig in die Mache“ nehmen soll.
Das 20000-Einwohner- Städtchen beschreibt Lessing als „schöne Stadt in der auf der Osterstraße die Schafe weiden“. Im Haus der Elise Lüders in der Mühlenstraße 8 kommt er unter, gerät aber schon bald wieder in Konflikt mit seinen Lehrern, den „Kleinstadtspießern und verdrehten Käuzen“. Er widersetzt sich Dörries Versuchen ihn zu „kurieren“, hat das Gefühl seine literarische Begabung werde „togebalzt“.
„Ausgepolstert mit Lyrik“ reißt er zu Maximilian Harden nach Berlin aus, der ihn zu einem Besuch Fontanes mitnimmt, welcher ihm rät: „Zahntechniker – das ist auch ein guter Beruf.“
Die Wende kommt mit dem Hamelner Pädagogen Max Schneidewin. Der von seinen Schüler drangsalierte, vor dem praktischen Leben in philosophische Traumwelten geflüchtete Schneidewin entdeckt Lessings Begabung, ermöglicht ihm den Wandel „vom Schandfleck zum Vorzugsschüler.“ Lessing: „Nun war ich kein Fremdling mehr. (…) Ich wurde künftig lenksamer, oder wie der bürgerliche Jargon sagt, ´endlich vernünftig´.“
Auch das Hamelner Ambiente jener Zeit trug entscheidend dazu bei: „Inniger und enger verwuchs ich mit dem grünen Nest. Mit seines Stromes Wehr und fröhlicher Welle. Mit seines Ohrbergs wildumbuschten Geklüft. (…) Mit Hochzeitshaus und Münster. (…) Die Lachsbootfischer, die Dampfer von Bremen, der Fernzug aus Aachen; der Teergeruch bei der Soldatenschwimmanstalt (…) die Stadtoriginale: der Doktor Finnefroh mit seinem grauen Zylinder, der alte Konsul Schläger, und – allmorgendlich für fünf Pfennige zwei herrliche Frühstückshörnchen bei Bäcker Lemcke, ja, das Leben hatte viele Freuden.“
Max Schneidewin und auch Lessings Wirtin Sybille Schröder haben eine Lebensänderung des jungen Theodor Lessing bewirkt, die ihn für den weiteren Lebensweg stärkte.
Unverständlich, dass bis heute die Erinnerung an diesen streitbaren Geist in Hameln kaum gepflegt wird. Ein früherer Direktor des Schiller-Gymnasiums etwa lehnte eine Gedenktafel ab, und auch Museumsverein und Stadtarchiv, kritisiert Jürgen C. Kruse, zeigen sich reserviert. Angesichts der fehlerhaften Inhalte in Internet und Sekundärliteratur droht die Hamelner Zeit Theodor Lessing dem Vergessen anheim zu fallen.