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Uwe Timms Zeitreise in die Vor-68er Ära

Uwe Timms Zeitreise in die Vor-68er Ära

Donnerstag, 15. September 2011

Dass die Veranstaltung in der „Kunsthalle“ Springe seit langem ausverkauft war, verwunderte nicht, schließlich las mit Uwe Timm einer der bedeutendsten Gegenwartserzähler an diesem neu geschaffenen Ort für Kunst im Herzen der Deisterstadt.

Bild: Uwe Timm signiert, Kulturkreis-Chef Hinrich Bergmeier im Gespräch mit Richard Kämmerlings

Timm war auf Einladung des Kunst- und Kulturkreises im Rahmen des von der VGH-Stiftung veranstalteten Literaturfestes Niedersachsen an den Deister gekommen, um eine der niedersachsenweit 28, in diesem Jahr unter dem Motto „Zeit“ stehenden Lesungen zu gestalten.

Die Frage nach „Fortschritt und Zwangsläufigkeit“ habe den Autor immer wieder beschäftigt, so der Germanist und WELT-Autor Richard Kämmerlings, der in dessen Verschränkung von Biografie und Werk einführte.

Uwe Timm habe sowohl als „Chronist der 68er“ („Heißer Sommer“, 1974), in der Auseinandersetzung mit seiner Familiengeschichte („Am Beispiel meines Bruders“, 2003) wie in Begegnungen etwa mit Benno Ohnesorg („Der Freund und der Fremde“, 2005) Privates und Öffentliches zusammen gebracht und die Frage nach alternativen Lebensverläufen gestellt. Warum sind wir die, die wir sind? Sind wir die geworden, die wir sein wollten? so Timms zentrale Fragen.

Die stehen auch im Mittelpunkt von Timms soeben erschienener Novelle „Freitisch“, einer literarischen Zeitreise zurück in die Vor-68er Ära und zugleich eine „Hommage an Arno Schmidt“. „Vielleicht so eine Art Gegenbuch zu ´Zettels Traum´“, sagt Timm. Er wolle jedoch Schmidts „elaborierte Form, diese Brechung des Gebrochenen“ nicht nachmachen. „Es gibt zwar viele Anspielungen auf Schmidt in meinem Text, aber man kann ihn auch einfach so lesen.“

Der Mann in den sorgfältig gebundenen Turnschuhen,  dunkelblauen Jeans und Pullover führt seine Zuhörer anhand eines „Erinnerungsfilms“ innerhalb einer Rahmenhandlung zurück  in die Vor-68er-Zeit, schildert pointiert und mit Sinn für Witz die hierarchischen und geistigen Verkrustungen  damals tradierter Lebens- und Gesellschaftsformen, die nicht nur für die Hauptfigur im Wunsch „selber ein anderer zu sein“ mündeten.

95 Prozent seien als Erinnerung im Kopf, der Rest sei recherchiert, bekennt Timm auf die Frage des Moderators, und stellt klar, dass die 68er, genauer die 67er, „keine Leistungsverweigerer“ gewesen seien. „Erst die dann kamen, hatten das Problem mit der Arbeit, die man, weil sie entfremdet, meiden sollte. Die Schlurries kamen erst in den 70ern.“ In diesem Punkt teilt Timm Arno Schmidts Kritik.

Die Diskussion in Springe kreiste um die Frage, ob Literatur immer etwas Neues schaffen müsse. Timm: „Es muss nicht unbedingt das Neue sein.“ Statt fortwährender „Innovation des ästhetischen Materials“ sei die entscheidende Frage vielmehr, wie Literatur Wirklichkeit darstellen könne. Vielleicht so wie in Uwe Timms Rückbesinnung auf die Revolutionäre in Schlips und Kragen.

Was aus denen wurde, darauf wird am kommenden Montag der ehemalige RAF-Mitglied Christof Wackernagel in einer Lesung aus seiner Traum-Trilogie „es“ auf dem Hermannshof eine Antwort versuchen.

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