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Carmen und ihre Männer – analytisch gesehen

Carmen und ihre Männer – analytisch gesehen

Sonntag, 27. November 2011

„Nimm Dich in acht!“, so lautet die unmissverständliche Warnung des Weibes, doch der Weg des Mannes in die Katastrophe ist unausweichlich. Georges Bizets skandalträchtige, 1875 in Paris uraufgeführte Oper in vier Akten nach der literarischen Vorlage „Carmen“ von Prosper Mérimée brachte auch ihrem Komponisten kein Glück. Knapp drei Monate später starb er.

Bild: Milana Butaeva als Carmen und Andrés del Castillo als Don José

In einer vom Publikum umjubelten Kombination bekannter „Carmen“-Arien und einer sprachlich überaus eloquenten tiefenpsychologischen Analyse legte der für seine musikpsychologischen Untersuchungen bekannte Psychotherapeut Wolfgang Sättler aus Oberursel Bizets Hauptcharaktere auf die Freudsche Couch – mit überraschenden Ergebnissen.

Arbeiterin in der Zigarrenfabrik, Unterschichtmädchen, Zigeunerin, Prostituierte? Wer ist diese Carmen? So lautete Sättlers Leitfrage. Eine ´femme fatale´ und männermordende Circe, unschuldiges Opfer einer Eifersuchtstat oder gar Vorreiterin der Frauenbewegung? Kaum. Sättlers Analyse kommt zu einem die Carmen-Interpretation revolutionierenden Ergebnis.

Sein Befund: „Carmen  verharrt in ihrer schizoid-paranioden Situation ohne jeden Ausweg. Nie wird sie Kinder haben und Mutter sein können. Ihr Fatalismus ist Ausdruck ihrer Hoffnungslosigkeit und der ihrer Klasse. Ihre Ermordung durch Don José  ein in seinem Mord versteckter Selbstmord.“

Während Sättler für Charaktere wie Escamillo, den Torero, nur wenige, gleichwohl eindeutige Worte findet („ein durch geistige und moralische Schlichtheit gekennzeichneter, testosterongesteuerter Macho“), fällt sein Urteil über Don José  differenzierter aus. „Ein von einer prä-ödipalen Mutter gänzlich abhängiger,   zwischen Heiliger und Hure hin- und her gerissener, gespaltener, schwacher Mann, der am Ende alles verloren hat.“

Wenngleich im Ergebnis unerwartet und verblüffend, sind Sättlers Analysen doch inhaltlich überzeugend, vor allem aber sprachlich überaus brillant in Szene gesetzt. Sie korrespondierten dabei aufs Trefflichste mit den weit mehr als nur illustrierenden, sondern als eigenständige, musikalische Juwelen dargebotenen Arien.

Allen voran riss dabei die Mezzosopranistin Milana Butaeva von der Dresdner Semperoper als überaus verführerische Carmen die „Schaafstall“-Besucher zu Begeisterungsstürmen und Bravorufen hin. Grandios nicht nur ihre „Habanera“, sondern auch der aus Peru stammende Tenor Andrés del Castillo, der in der Rolle des Don José durch seine Stimmgewalt im dramatischen Duett mit Butaeva ebenso begeisterte wie Johanna Krumin als Bauernmädchen Micaëla. Am Klavier begleitete die Pianistin Polina Lubchansky aus St. Petersburg das Gesangstrio.

Zum Jahresabschluss also ganz große Oper im kleinen Egestorfer „Schaafstall“ von Ernst Jürgen Kirchertz mit einer gelungenen Symbiose von exzellenter Gesangskunst und in kunstvoller Sprache daherkommender tiefenpsychologischer Analyse. Rundum ein Genuss.

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